Sonntag, 17. Januar 2021 | Thomas Ritt | News / Europa
Die Tourist Trophy auf der Isle of Man ist das älteste, gefährlichste und daher wohl auch legendärste Motorradrennen der Welt. Natürlich hat auch Edelweiss immer wieder Touren dorthin angeboten, in den 1990er Jahren sogar in großem Umfang. Wir hatten Kontingente an Fährtickets und Hotelzimmern, teilten die Trainings- und die Rennwoche in Blöcke auf und verkauften sie, vor allem an Fahrer aus dem deutschsprachigen Raum, die mit ihren eigenen Motorrädern anreisten. Treffpunkt war stets Liverpool. Pro Jahr brachten wir so bis zu 200 Gäste auf die Isle of Man.
1997 führte ich eine Tour dort, zusammen mit meinem Kollegen Jörg. Am Mad Sunday darf ein Teil des Mountain Course nur in eine Richtung befahren werden, es gilt kein Tempolimit und alle Besucher sind eingeladen, auf der Strecke mal so richtig am Kabel zu ziehen. „Mad“ trifft es also sehr genau, immerhin sind dann an die 20.000 Bikes gleichzeitig auf dem 60 km langen Kurs unterwegs und geben Vollgas, vor allem eben in jenem Einbahn-Stück.
Auch wir wollten uns diese Gaudi nicht entgehen lassen und mischten uns unter die Wahnsinnigen. In der Gruppe fahren war natürlich nicht möglich, deshalb war jeder für sich. Jörg und ich fuhren eine Runde und stellten uns dann wieder in Ramsey an, wo die Polizei am Beginn der Einbahn-Sektion den Verkehr regelte. Doch die Strecke blieb gesperrt, ein Unfall sagte der Polizist. Very bad.
Zurück in Douglas machten die News bereits die Runde. Zwei einheimische Ehepaare waren an der Strecke, um sich das Treiben anzuschauen. Ehemann Nr. 1 wollte auch gern mal eine Runde fahren, seine Frau aber nicht. Bei Ehepaar Nr. 2 war es genau anders herum. Also nahm Ehefrau 2 hinter Ehemann 1 auf dessen Motorrad Platz, es ging los. In Windy Corner stürzten sie und starben beide noch an der Unfallstelle. Ihre Partner in Douglas warteten vergebens.
Ziemlich mitgenommen von diesem tragischen Unfall beendeten Jörg und ich den Fahrtag und gingen ins Pub. Beim Frust-Bier sage ich zu ihm, dass ich den Mad Sunday in Zukunft meiden würde. Zu heftig, zu verrückt, sagte ich, da fahr ich ja noch lieber beim richtigen Rennen mit, ist sicher weniger gefährlich. Er stimmte mir zu, wir bestellten noch ein Pint.
Ein paar Monate später. Fuzzy, damals Operations Manager bei Edelweiss und zuständig für die Einstätze der Tourguides, ruft mich an und sagt: „ich hab gehört du willst mal bei der Tourist Trophy mitfahren. Hat der Jörg erzählt.“ Ich: „Ach, das war nur so dahingesagt.“ Fuzzy: „Willst du jetzt oder nicht? Edelweiss würde dich sponsern.“ Tja, und wenn der Floh erst mal im Ohr sitzt, dann gibt er keine Ruhe mehr.
Also rief ich bei der OSK (Oberste Sportkommission) an und fragte, ob ich eine Rennlizenz dafür bekommen würde, also eine internationale. Als ehemaliger Teilnehmer der Motocross-WM hatte ich eine WM-Lizenz und die, so sagte man mir, wäre ausreichend. Als nächstes musste ich mich für die Teilnahme an der TT bewerben, denn man kann natürlich nicht einfach hinfahren und mitmachen. In den Ausschreibungsunterlagen wird alles Mögliche abgefragt, deine Rennsporterfahrung, deine Erwartungen (also welchen Rang du glaubst, belegen zu können), warum du teilnehmen willst und woher du das Selbstbewusstsein nimmst, zu glauben, du könntest die notwendige Qualifikationszeit knacken. Dazu darf deine Zeit maximal 10 oder 15% (weiß ich nicht mehr genau) über der Zeit des Rennsiegers (!) aus dem Vorjahr liegen. Diese Zeiten sind ja bekannt, und so konnte ich kalkulieren, indem ich meine Zeiten auf mir bekannten Rennstrecken mit denen der jeweiligen Rennsieger verglich. Ergebnis: müsste zu schaffen sein. Also schrieb ich, dass ich „mich qualifizieren und das Rennen bestehen“ möchte. Meine Bewerbung wurde angenommen und ich erhielt bald darauf meine Startnummer, die 43. Mit meiner Honda CBR 900 RR war ich für die „Production 1000“-Klasse eingeschrieben, die heute „Superstock“ heißt.
Zu dieser Zeit führte ich gerade eine Edelweiss-Tour in den USA und als mein Bruder anrief, um mir vom Eintreffen der Startnummer zu erzählen, wurde ich doch leicht nervös. Mein Tourguide-Motorrad war eine BMW K75, ich war unterwegs auf den endlosen Geraden des Westens, als Training für die TT konnte man das nicht bezeichnen. Für echtes Training hatte ich dank meines damals schon sehr vollen Terminkalenders keine Zeit mehr. Tja, es war, was es war.
Wieder zu Hause überredete ich meinen Bruder, der zufällig stolzer Besitzer eines großen Wohnmobils war, als mein Mechaniker mit auf die Insel zu fahren. Meine Honda XR400 packte ich auch ein, als Scouting-Mobil. Unmittelbar vor der Abreise bat mich mein damals 14jähriger Sohn, doch bitte nicht zu fahren, weil viel zu gefährlich, aber zum Kneifen war es jetzt zu spät. Ich versprach ihm, ganz vorsichtig zu sein und nicht zu versuchen, um den Sieg mitzufahren. Und überhaupt, nur dieses eine Mal!
Auf der Fähre zur Ise of Man, umgeben von tausenden komplett verrücken Motorradfreaks, lernte ich auch andere Teilnehmer kennen. Dennis Winterbottom, ein sehr erfahrener und guter Fahrer und Teilnehmer in vier Klassen, gab mir unschätzbar wertvolle Tipps und ich konnte ihn sogar überreden, mir direkt vor Ort entlang der Strecke die Schlüsselstellen zu erklären.
Wir fuhren also mit dem Auto den Kurs ab, ich hatte ein Diktaphon dabei und er erklärte:. „From here to down there it’s flat out“ („von hier bis dort unten Vollgas”). Really? Von Governors Bridge bis Quarter Bridge immer volles Rohr. Klang unglaublich. An vielen Stellen sagte er mir, wie schnell man dort fahren kann, es klang immer unglaublicher. Diese Schikane hier, sagte er, ist keine Schikane mehr, wenn man sie richtig fährt. Wenn man sie allerdings falsch fährt, ist man tot.
„This section is flat out with a 600, but not with a superbike”.
“This section is flat out for me, but for you, I don’t know”.
Für jede Kurve des über 60 km langen Kurses erklärte er mir exakt die Ideallinie, ich füllte die Kassette des Diktaphons und hörte es mir immer wieder an, die ganze Nacht lang. Am nächsten Tag nahm ich die XR und schaute mir alles nochmal an, zweimal, dreimal. Dennis‘ Tipps waren unglaublich wertvoll, ich hätte Jahre gebraucht, um mir das alles selbst anzueignen.
Wer zum ersten Mal an der TT teilnimmt („Newcomer“), bekommt ein spezielles Briefing und eine Sichtungsrunde im Bus. Nie auf die Zeiten schauen, sagte man uns, immer nur auf die Linie. Die Zeiten werden von selbst immer besser, wenn die Linie besser wird. Auch im Rennen! „If you qualify and finish, you have done very, very well!” (Wenn du dich qualifizierst und das Rennen bestehst, dann warst du sehr, sehr gut). Wir werden mit dem Bus um den Kurs chauffiert, der Fahrer erklärt die wichtigsten Stellen. Nach der Rhencullen Bridge knickt die Strecke abrupt ab, man muss blitzschnell umlegen, um nicht geradeaus an der Wand des dort stehenden Hauses zu zerschellen. Dort sind Heuballen aufgetürmt, als Schutz. „Remember“, sagt der Busfahrer, „the haybales protect the house!“. Im Bus lacht man nur ganz verhalten.
1998 war ein sehr nasses Jahr, im Training regnete es jeden Tag. Damals wurde noch mit Straßenreifen gefahren, ich hatte Pirelli Supercorsa aufgezogen, die fast wie Slicks waren, suboptimal bei Regen. Im 6. Gang, bei Vollgas auf den Geraden, drehte der Motor in den Begrenzer, soviel Schlupf hatte das Hinterrad. Vernünftig ist das hier nicht, dachte ich. Aber die anderen fahren ja auch. Also Gas! Ein Honda-Werksfahrer, der anlässlich eines Jubiläums im Auftrag der Japaner unterwegs war, verunfallte schon in der ersten Runde des Trainings. Er verletzte sich ziemlich, das Motorrad war zerstört. Auf Drängen von Honda wurde das Reglement ab 1999 geändert, es wurden Renn- und Regenreifen zugelassen, auch in der Production Class.
Aufgrund des schlechten Wetters hatte ich mich in den ersten vier Tagen des Trainings nicht qualifizieren können, es war einfach nicht möglich, schnell genug zu fahren. Vielen anderen erging es ähnlich. Am Freitag dann war es dann endlich trocken und ich konnte die vorgegebene Qualifikationszeit um eine halbe Minute unterbieten. Wohlgemerkt bei Rundenzeiten von fast 23 Minuten! Die Trainings finden immer ganz früh am Morgen statt, von 5 bis 7 Uhr, alle Klassen gemeinsam. Als Gegenleistung für das Sponsoring von Edelweiss war ich ja nebenbei auch noch Tourguide, deshalb fuhr ich nach dem Training immer zur Gruppe und erzählte von meinem Einsatz an der Rennfront, während meine Kollegen das Tagesgeschäft erledigten. Dazu gehörte, die Gruppe zu verschiedenen Stellen entlang des Kurses zu führen, um dort die Fahrer beim Training zu beobachten. So konnten mir die Tourteilnehmer auch wertvolles Feedback geben. „Joey Dunlop fährt an diesem Kanaldeckel immer links vorbei, du bist rechts.“ Also beim nächsten Turn ausprobiert – und schon wieder eine Zehntel schneller! 200 Coaches rund um den Kurs verteilt, das hat nicht jeder! Die Tourteilnehmer haben mich auch im Fahrerlager besucht, ich hab sie rumgeführt, eine großartige Erfahrung für alle.
Schließlich das Rennen. In meiner Klasse ging es über drei Runden, nach der zweiten war ein Boxenstopp vorgesehen. Man startet mit 10 Sekunden Abstand und lässt sich normalerweise bereitwillig überholen, denn wenn ein Fahrer von weiter hinten aufgeschlossen hat, dann ist er deutlich schneller unterwegs und es macht keinen Sinn, „Kampflinie“ zu fahren. In der zweiten Runde wurde ich bei Rhencullen von John Henderson überholt, einem erfahrenen Piloten aus England. Er kam kurz darauf, unmittelbar vor mir, zum Sturz.
Eine häufige Unfallursache bei Rennen auf der Isle of Man ist das Überfahren des inneren Curbs. Da viele Kurven nur schwer zu überblicken sind, trifft man auch die Einlenkpunkte oft nicht genau, noch dazu bei dem unglaublich hohen Tempo. Und weil der Curb, anders als bei „richtigen“ Rennstrecken, nicht einfach nur eine rot-weiß angemalte Linie ist, sondern eben der Gehsteig mitsamt 15 cm hohem Randstein, endet so ein Fehler sehr oft fatal. Auch ich hatte einmal meinen Knieschleifer im Kontakt mit dem „Curb“ und wusste dabei, dass die Verkleidung meiner Honda nur noch eine Handbreit vom Randstein entfernt war. Und das bei 160 oder 180 km/h. Von so etwas darf man sich allerdings nicht ablenken lassen.
„Clipping the curb“ nennt man das Überfahren des inneren Curbs im Rennjargon, und genau das war John Henderson passiert, unmittelbar vor mir. Ich sah ihn und dachte noch, das geht sich niemals aus. Da verlor er schon die Kontrolle und schlug ungebremst in die Steinmauer auf der anderen Straßenseite ein. Er war sofort tot, sein in grünes Leder gehüllter Körper wurde auf die Straße zurückgeschleudert, seine Kawasaki zerplatzte in tausend Teile. Glücklicherweise konnte ich einen Zusammenprall vermeiden und fuhr weiter, doch es dauerte einige Zeit, bis ich den Gedanken verdrängen konnte. Aber verdrängen musste ich ihn, denn wer hier nicht 100%ig bei der Sache ist, der ist als nächstes fällig.
Am Ende der Runde fuhr ich in die Box, um zu tanken. Dabei sah ich auch die grünen Kawasaki-Jungs, die jede Sekunde die Ankunft ihres Fahrers erwarteten. „Der wird nicht mehr kommen“, dachte ich und erschauerte unweigerlich, doch ich behielt mein Pokerface auf und sagte meinen Bruder nichts. Er füllte meinen Tank, klopfte mir auf die Schulter und ab ging’s zur dritten Runde. Diese gelang mir gut, ich erreichte die Ziellinie und beendete das Rennen, unter dem Applaus tausender Fans. Ein unglaubliches Gefühl und eine unglaublich Belohnung für eine unfassbar anstrengende Stunde, in der man über 180 km zurückgelegt hat, auf den schmalen, kurvigen Inselstraßen. Die Platzierung spielt dabei keine Rolle, nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich von 77 Startern als 56. ins Ziel kam.
Einige Zeit nach dem Rennen wurde ich von den Ausrichtern der TT kontaktiert und eingeladen, am 1999er Rennen teilzunehmen. Offensichtlich war ich gut genug gewesen. Die Versuchung war groß, ich hatte inzwischen eine neue Fireblade, jetzt mit 1000 ccm und mehr Leistung, sicher um einiges schneller, vielleicht könnte ich ein paar Plätze weiter vorne ins Ziel kommen. Akute Suchtgefahr, es folgten einige schlaflose Nächte. Doch schließlich siegte die Vernunft und ich lehnte ab. Außerdem hatte ich es ja meinem Sohn versprochen…
Christian Preining, Österreich, Tourguide- und Instruktor-Legende seit 1993